Der Online-Versandhändler Amazon baut in London eine Einheit mit Versicherungs- und IT-Fachleuten auf. Damit kündigt sich der Eintritt des Unternehmens auf den europäischen Markt an. Als Vorteil bringt es seine jahrzehntelange Erfahrung im digitalen Kundenservice und im Datenmanagement mit. Traditionelle Akteure der Versicherungsbranche müssen sich dramatisch erneuern – oder Amazon wird sie aus dem Markt drängen.
Amazon verändert die Regeln
Der konzentrierte Markteintritt von Amazon kommt zu einem Zeitpunkt, zu dem traditionelle Versicherer eigentlich gerade durchatmeten. Die Konsolidierung im Insurtech- und Fintech-Bereich löste in den letzten Monaten Erleichterung aus.
„Das Schlimmste, das passieren kann, wäre der Aufstieg eines Insurtechs”, dachten viele. Selbst in diesem „Worst-Case-Szenario” – sogar bei einer Unicorn-Bewertung im Milliardenbereich – hätte einer der Top-Versicherer dieses Start-up mit Mitteln aus der Portokasse kaufen können.
Mit dem Markteintritt von Amazon hat sich dies verändert. Amazon drängt nun auf die westlichen Märkte – und kein Versicherer hat genug Mittel an der Hand, diesen Platzhirsch einfach zu kaufen und so die Disruption zu kontrollieren.
Was wir soweit wissen
Gerüchten zufolge hat Amazon in London mehr Personalvermittler mit dem Aufbau einer neuen Versicherungseinheit beauftragt, als die meisten Multimilliarden-Versicherer in ihren Innovationsabteilungen beschäftigen. Hinter den Kulissen sagen einige – ohne belastbare oder offizielle Bestätigung –, dass Amazon plant, kurzfristig über 100 Technologie- und Versicherungsexperten für seine neue Einheit in London einzustellen.
Um dies in ein Verhältnis zu setzen, sei auf das Insurtech Lemonade verwiesen. Lemonade hat mit einem Startkapital von 3,6 Millionen US-Dollar und einer Handvoll Mitarbeitern begonnen. Amazon hingegen ist ein Gigant.
Das Unternehmen nimmt mit Großbritannien, Deutschland, Frankreich, Spanien und Italien gleich die größten Märkte Europas ins Visier. Dabei steht ihm enormes Kapital zur Verfügung. Mehr noch: Amazon verfügt über eine Technologie-getriebene Organisation und agile Unternehmenskultur, die schon eine Reihe an Industrien transformiert und maßgebliche Umsatz- und Profitströme hin zum Unternehmenssitz in Seattle umgelenkt hat.
Große Teile der traditionellen Versicherungswirtschaft werden durch eine agile, technologie- und datengetriebene Einheit mit einem Bruchteil der Mitarbeiter ersetzt.
Amazon wird kein traditioneller Versicherer – es wird mehr
Für Amazon ist die beeindruckende Gründung einer 100-Personen-Abteilung aller Wahrscheinlichkeit nach nur ein erster Schritt eines strategischen Planes, um sich signifikante Teile der weltweit vier Billionen Euro schweren Versicherungsindustrie zu sichern. Die Gründung von Amazon Protect vor einem Jahr in Großbritannien sieht nun im Nachhinein nach einem Pilotprojekt für die neueste Strategie aus.
Wenn auch die nächste Phase positive Ergebnisse bringt, wäre eine noch viel größere und exponentielle Expansion denkbar. Vermutlich geht es nicht darum, dass Amazon ein weltweites Versicherungs-Unternehmen mit zehntausenden Mitarbeitern plant. Das muss es auch gar nicht.
Es ist aber wahrscheinlich, dass das Unternehmen darauf zielt, eine weltweite Versicherungs-Organisation aufzubauen, die große Teile der traditionellen Versicherungswirtschaft durch eine agile, technologie- und datengetriebene Einheit mit einem Bruchteil der Mitarbeiter ersetzt. Und dabei ähnliche, wenn nicht gar bessere Ergebnisse erzielt.
Markteintritt ist aufgrund des Kundenwissens dramatisch
Amazon kann sein in den letzten zwei Jahrzehnten gesammeltes Wissen über das Verhalten und die Bedürfnisse seiner Kunden wirksam einsetzen. Während viele traditionelle Versicherer noch diskutieren, wie ihre organisatorischen und technischen Altsysteme zu modernisieren sind, ist der Versandhändler befähigt, routiniert auf wissenschaftlicher Datenbasis Kundenverhalten zu analysieren und damit die Kunst des Up- und Cross-Sellings zu perfektionieren.
Nur ein Bruchteil der Vermittler gehört zu den Top-Performern. Den Rest wird Amazon hinwegfegen.
Die umsatzstärksten Versicherungsvertreter und -makler der alten Welt sind in dieser Kunst so erfolgreich, weil sie ihre Kunden – häufig über einen langen Zeitraum – sehr gut kennen. In manchen Fällen werden sie auch weiterhin in der Lage sein, die analyse- und datengetriebenen Algorithmen von Amazon zu schlagen. Doch nur ein Bruchteil der zehntausend Vermittler gehört zu dieser Gruppe der Top-Performer. Den Rest wird Amazon hinwegfegen.
Limitierte IT-Fähigkeiten bei den Etablierten
Neben seinem umfangreichen Wissen über seine Kunden hat Amazon unter Beweis gestellt, dass es ganze Ökosysteme digitaler Produkte und Services bauen kann, die die Kunden begeistern, zu Millionen an das Unternehmen binden und Milliardengewinne monetarisieren. Traditionelle Versicherer sind eher für das Gegenteil bekannt.
Die Liste teurer und gescheiterter IT-Projekte sowie produktorientierter, schlechter Services, die Kunden in Scharen vergraulen, scheint endlos. Äußerst schlechte Net Promoter Scores der Branche und vieler Versicherer sprechen eine deutliche Sprache.
Die erfolgreichen Fähigkeiten von Amazon und anderer Technologieunternehmen, die Prinzipien technologie- und kundenorientierter Produktentwicklung anzuwenden, scheinen in der etablierten Versicherungsindustrie mehr als limitiert – um es diplomatisch auszudrücken.
Amazon vermeidet im Übrigen ein großes Problem, das sich Start-ups und traditionelle Unternehmen sonst teilen: ausufernde Kosten zur Kundengewinnung. Um online neue Kunden zu gewinnen, müssen diese Unternehmen für einen Kunden an Google und Co. teilweise Hunderte Euro zahlen. Amazon umgeht dies, da es schon über eine sehr große Kundenbasis verfügt.
Kein Weg geht an einer Transformation in datengetriebene und kundenorientierte Technologie-Unternehmen vorbei.
Nur noch wenig Zeit
Vor dem Markteintritt von Amazon war die Lage für die Versicherungswirtschaft sehr komfortabel. Bis zu einer ernsthaften Umwälzung hätte es wahrscheinlich noch viele Jahre dauern können. Dieser Zeitraum hat sich schlagartig verkürzt.
Wenn Versicherer nicht große Teile des Marktes – und damit der Profitabilität – an Amazon abgeben möchten, muss nun gehandelt werden. Meines Erachtens nach geht kein Weg an einer Transformation der meisten Organisationen in datengetriebene und kundenorientierte Technologie-Unternehmen vorbei.
Hierfür müssen tausende junge, datengetriebene und agile Experten für die Versicherungswirtschaft begeistert und eingestellt werden. Sie müssen die Marmorhallen der Versicherungsindustrie bevölkern, um gegen Amazon eine Überlebenschance zu haben. Digital- und Internetexperten, mit nachweisbaren Erfolgen inner- und außerhalb der Versicherungsindustrie, müssen die Verantwortung für die digitale Transformation erhalten – auch und gerade auf Vorstandsebene.